Saturday, November 15, 2014

The Interview #3/2014: Jakob Ullmann

Jakob Ullmann
(photo/copyright: Frank Bauer) 

Dear readers,

today I am proud to present an interview with one of my favorite composers of contemporary music Jakob Ullmann. I still seem to have a vivid memory of how I discovered his music back in the early 1990's. I remember recording his music on cassette late at night from SFB 3 and that I went to a concert with one of his pieces at the Konzerthaus/Gendarmenmarkt in Berlin (also in the 1990's) that impressed me deeply. 

Later on (round 1996) I purchased his CD on Wergo published by the Deutscher Musikrat accompanied by the thought that it might be considered foolish trying to own a copy of disappearing musics. And some of his works on Edition RZ - later. If asked, I would always count Ullmann's works under the most influential for my ears together with the works of John Cage, LaMonte Young, Giacinto Scelsi, Karlheinz Stockhausen, Helmut Lachenmann and Morton Feldman.

In a way he was the last composer I discovered in the field of the so called "Neue Musik" until today. After this multi-self-unfolding aural event my private cartography of "Neue Musik" felt complete. Ullmann was at once Schlussstein and caesura. Ullmann's silent music reverberated in my ears since then; or accompanied me almost unnoticeable - in secret (clandestinus and seperatus) - over the years as if his sounds had chosen a hidden resting place on their own in my cochlea to strengthen my attentiveness in bright daylight while listening to his or other sounds directly (Is there really something like daylight for the ears ?).

It could seem that maybe the most silent music in the world has the most powerfully-powerless tele-poietic force one could imagine - an actio in distans. Ullmann's music seems to work on nano-levels, being not really in need of mechanic repetitions and reproductions in the form of records. It rather de- and recodes soundspaces for attentive ears and not so much for loudspeakers. In this sense I would like to relate his soundworld to a subtle sound-"phenomenon" described by Hakuin in a poem to trigger your interest in listening - giving einen Ohrenzeig - without blocking the possibility of a first encounter with Ullmann's work. This is the poem by Hakuin: "If only I could share it: The soft sound of snow. Falling late at night. From the trees. At this old temple." 

Jakob Ullmann's works are carefully and beautifully edited by Edition RZ. I also highly recommend to read his intriguing PhD published under the title "Logos Agraphos. Die Entdeckung des Tones in der Musik" (Edition Kontext, Berlin 2006). For further information you can visit Jakob Ullmann's homepage . For english readers I would like to point at the April 2013 issue of The Wire with a very interesting article about Jakob Ullmann by Nick Cain. For german readers I recommend to read the newest issue of MusikTexte No. 143, November 2014 containing articles about Jakob Ullmann..

This interview was conducted in german via e-mail in September 2014. I want to thank Prof. Jakob Ullmann for his kindness and his generosity to share his thoughts with this blog. Cordial thanks for everything, Prof. Ullmann ! The answers [green] are all copyright Jakob Ullmann, the questions [red] are all mine.


Das Interview


[SKG] Herr Professor Ullmann, wie würden Sie sich selbst mit wenigen Sätzen beschreiben, um sich den Lesern/Hörern vorzustellen ?

[Jakob Ullmann] jakob ullmann, geboren in freiberg/sachsen, (ehemaliger) organist, komponist, autor, herausgeber, dr. phil., seit 2005 hochschullehrer, verheiratet, 2 kinder, 1 enkel

[SKG] Einmal angenommen, dass der Wunsch nach Klangformung aus einer musikalisch nicht formalisierbaren sehr frühen Klangerfahrung (Lacoue-Labarthe spricht einmal in „L’écho du sujet“ (1979) vom „antémusical“) heraus entsteht. Wenn man also von einer Berufung zum Komponisten spricht - wäre die Frage nicht auch von woher sozusagen der Ruf zum Klang kommt ? Und wenn der Ruf aus einem „unhörbaren Klang“ (unhörbar im Sinne von absolut-undarstellbar und als Punkt unendlicher Annäherung durch und als „Musik“) selbst käme, wäre dann der Prozess der Komposition nicht eher ein viel passiverer Prozess, der den Komponisten noch mehr zum Hörer fremder, unbeherrschbarer Klänge machen würde ? Wäre dann diese Auffassung der „Musik“ verwandt mit Philosophie-Formen, die das Denken nicht mehr als natürliche Anlage, sondern als von „Aussen“ forciert ansehen (etwa Nietzsche, Blanchot, Deleuze, Derrida, Heidegger etc.). Gab es für Sie, Herr Ullmann, ein Ohr-öffnendes Ereignis in diesem Sinne - oder anders gefragt, wie kam „die Musik“ zu Ihnen ?

[Jakob Ullmann] Meine früheste, vielleicht gerade deshalb bis heute prägende erfahrung mit musik* war eine im wahrsten und direktesten sinne erschreckende: ende der fünfziger jahre ging die ddr-führung angesichts mangelnder erfolge bei der werbung für die kollektivierte form landwirtschaftlischer tätigkeit insbesondere in jenen gebieten der ddr, die – anders als in den ehemaligen preussischen gebieten, wo bauern über jahrhunderte gewöhnt waren, auf liegenschaften adliger grossgrundbesitzer als domestiken zu arbeiten – von freiem bauerntum geprägt waren (wie meine heimat sachsen), dazu über, den druck auf jene bauern direkt und indirekt, jedenfalls drastisch zu erhöhen, „freiwillig“ in die neu gegründeten oder zu gründenden „landwirtschaftlichen produktionsgenossenschaften“ (lpg) einzutreten, die diesem ansinnen kritisch gegenüberstanden. 

Es mag ein angesichts der selbstmorde und zerstörter familien, zerstörter existenzen ein ziemlich gewöhnungsbedürftiger treppenwitz der geschichte sein, dass nach 1990 sich bei der „abwicklung“ der lpgs durchaus szenen wiederholten, die man von anfang 1960 noch in erinnerung hatte... Im dorf jedenfalls, in dem ich damals wohnte, wurden vor den häusern der bauern, die sich in die lpg einzutreten weigerten, lkws postiert, auf deren ladefläche lautsprecher montiert (oder postiert, das weiss ich nicht mehr) waren, aus denen rund um die uhr, d.h. tatsächlich 24 stunden ununterbrochen irgendwelche dummdreisten märsche plärrten und schepperten. Unterbrochen wurde diese frühform musikalischer folter (guantanamo beweist uns gerade wie viel weiter wir auch auf diesem gebiet inzwischen gekommen sind...) nur durch sprüche, in denen die bauern (in meiner erinnerung mit namen genannt) als knechte des kapitals, wenn nicht gar des faschismus denunziert wurden. Nach auskunft meiner eltern habe ich mich angesichts dessen wochenlang geweigert, überhaupt das haus zu verlassen.

Diese „klang“-erfahrung hat mein leben und meine arbeit bis heute geprägt und zu einer unüberwindlichen aversion gegen 4/4-takte und alles marschieren geführt (eine aversion, die durch meine tätigkeit als ballett-korrepetitor nachhaltig intensiviert worden ist). Ausserdem habe ich bis heute ein gespanntes verhältnis zu lautsprechern.

Beides mag damit zusammenhängen, dass zu dieser frühesten erinnerung meines lebens die verhaftung meines vaters gehört...

Übrigens war es bei familienfeierlichkeiten und vergleichbaren anlässen ein running-gag meiner älteren schwester, zu erzählen, dass ich nicht nur vor hühnern die flucht ergriffen hätte (was sicherlich wahr ist), sondern auch – von meinem vater an die orgel der dorfkirche meines heimatdorfes geführt – völlig erschreckt davongelaufen sei, weil ich der meinung war, dass man den orgelklang sicherlich nicht aushalten könne, wenn man sich diesem instrument nicht nur auf sicht-, sondern auf tastweite nähert.

*Die tatsache, dass es sich bei dem blechernen krach sicherlich nicht um musik im engeren sinne des wortes gehandelt hat, ändert (am ende) an der sache nichts.

[SKG] Wenn ich „Musik“ als die Summe aller sinnvoll planbaren Klangereignisse, die sich in einer mehr oder minder linearen Logik über einen präzise angegebenden (oft multidirektionalen) Zeitraum ausbreiten (Harmonik/Melodik/Rhythmik oder komplexere Gebilde von Zugleich, Neben- und Nacheinander (auch im konkret-räumlichen Sinne - etwa Stockhausens „Gruppen“, „Carré“, „Osaka“ und „Oktophonie“), der durch eine klare Unterscheidung oder Unterscheidbarkeit von Musik und Nicht-Musik entsteht und gekennzeichnet ist, betrachte, müsste man dann nicht einen anderen Begriff für die Gestaltung des Hörbaren finden, der dem Einbruch des Nicht-Musikalischen oder dem Einsickern Ausser-Europäischer Musik (als Hintergrund die Krise der seriellen Musik in den frühen fünfziger Jahren: Cages „Music of changes“, Xenakis‘ Aufsatz „La crise da la musique serielle“, Wyschnegradsky Mikrotonalität, LaMonte Youngs sechziger Jahre Diktum „“Music" might also be defined as anything one listens to“ und die Fluxus-Bewegung, Free Jazz (Coleman, Ayler etc. welchen Sinn hätte es hier z.B., die Klänge zu transkribieren ?) und Konstruktivistischer Jazz (Anthony Braxton), der damals noch unbekannte Scelsi und Harry Partchs verbrannte Instrumente etc.) in die „Musik“ Rechnung tragen würde ? Würde es für Sie einen Unterschied machen, anstelle von Musik künftig von Klang-Kunst zu sprechen ? Oder welchen Begriff würden Sie heute verwenden ? Möglicherweise wäre die Verbindung von Klang und Kunst auch prekär, da ja heutzutage der Begriff „Kunst“ (wohl nach ihrem Ende) inflationär für alles verwendet wird (von der gut gebratenen Currywurst bis zu Lady Gaga). Und die Frage wäre auch, ob man mit einer neuen definitorischen Rigidität (z.B. als Wahrheitsprozedur à la Badiou) wirklich weiterkäme - zumal wohl ausser Zweifel steht, dass DIE Kunst sowieso nicht existiert und die Zugehörigkeit eines Werks zu diesem Diskursbereich meistens überhaupt nichts aussagt, ausser dass das jeweilige „Kunst“-Werk wechselnden philosophischen Interessen entspricht oder eben nicht. Kann es überhaupt eine Musikästhetik geben, wenn sich die klassische Ästhetik in der Dualität Sichtbar/Unsichtbar hält, die durch eine Dominanz des Auges und der Mimesis bestimmt wird ?

[Jakob Ullmann] Die frage(n) erfordern dissertationen – wenn man sie überhaupt für beantwortbar hält. Ich will hemdsärmelig reduzierend einerseits, persönlich andererseits, statt einer antwort in diesem zusammenhang etwas in erinnerung rufen, was m.e. zu häufig vergessen wird: die musik ist in gewissem sinne die künstlichste aller künste (daher bei den romantikern so beliebt), denn sie ist die einzige kunst, die gänzlich der mimesis enträt. Ob musik der vögel, der fische oder der insekten, ob musik der menschen – keine dieser musiken ahmt etwas nach (nicht einmal die musik der menschen die musik der vögel wie man an den „zitaten“ dieser musiken in werken von Jannequin bis Messiaen leicht sich klarmachen kann). Ob deshalb die musik auch im bereich menschlicher kommunikation zu einer sprachähnlichen oder gar tatsächlich sprachstruktur gezählt werden kann, ist eine andere frage. Indem die musik aber radikal nicht-mimetisch ist, ist sie ebenso radikal „historisch“. Weil ihre grundelemente (in der abendländischen musik wohlgemerkt), die töne also, „erzeugnisse“ der kultur und nicht der natur oder deren abbilder sind, sind sie immer „historisch“. Es gibt keine musik (im europäisch-umgangssprachlichen sinne), auf die nicht der schatten von mehr als 2000 jahren geschichte fällt und die ihrerseits wieder schatten wirft. Dies vielleicht in einem durchaus ironischen sinne: das was man an der tradition zu haben glaubt, löst sich allemal dann in nebelschwaden, in kinder-gespenstergeschichten auf, wenn man auf diese schatten heutige bauten errichten will... Eine wahrheits-prozedur (à la würde mir zu sehr an ein kochrezept erinnern), wie sie Alain Badiou anmahnt, ist (auch) für die musik unabdingbar, aber es ist eine prozedur, die von der künstlichkeit und der historizität nicht abstrahieren darf! (Der pflug im meer...)


[SKG] Jacques Derrida sieht die Literatur in „Donner la mort“ (Paris 1999, 208) als Erbin „d’une histoire sainte dont le moment abrahamique reste le secret essentiel (et qui niera que la littérature reste un reste de religion, un lien et un relais de sacro-sainteté dans une société sans Dieu?), mais elle renie aussi cette histoire, cette appartenance, cet héritage.“ Wenn ich diesen Gedankengang auf die Musik beziehe, würden Sie dann diese Analogiebildung als kompatibel mit Ihren eigenen musiktheoretischen Vorstellungen sehen oder wie würden Sie diese modifizieren oder erweitern ? Hätte „Musik“ (abendländisch gesehen) dann vielleicht die Rolle, das Erfinden der Klänge aus dieser „geheimnisvollen“ Herkunft oder Verflechtung neu zu erfinden ? Wäre das dann immer noch Liturgie - oder um bei Derrida und seiner Logik des „x sans x“ zu bleiben - eine Liturgie ohne Liturgie ? Und an wen wäre diese „Musik“ dann gerichtet ?

[Jakob Ullmann]
s.o. Und weiter: wir vergessen zu leicht, dass die musik (abendländischer und osteuropäischer, d.h. griechisch-byzantinischen und damit vielleicht auch arabischer tradition) die einzige kunst ohne antike tradition ist. Ungeachtet der fortwirkung antiker musiktheorie verdankt sich die musik dieser tradition der eindeutigen und umfassenden ablehnung der antiken musik. Sie ist also aus einem „anti-musikalischen“ impuls geboren, dem der inkompatibilität mit aller musik der antike, um eine tradition des sprechens zu retten (nicht eine tradition der buchstaben; die jüdische tradition kompliziert das problem aber ändert nichts an den geäusserten dezidierten sätzen)! Abgesehen von der tatsache, dass die kirchen und ihre „liturgien“ (die dort begangenen schändlichkeiten hat Friedrich Nietzsche hinreichend klar benannt: „dem ist jeder atheismus vorzuziehen“!) wohl kaum in irgendeiner weise hilfreich bei der beantwortung dieser frage sind; das sich hier auftuende feld soziologischer, theologischer und philosophischer fragen ist so immens, dass auch eine persönliche antwort ohne anspruch auf allgemeine geltung derzeit unmöglich scheint. Wer immer meint, sub specie aeternitatis komponieren (und leben) zu können, mag dies tun. Aber müsste er nicht „farbe bekennen“? Das (musikalisch ergreifende) ende von Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ macht auf das problem aufmerksam. Kann man sich so „aus der affäre ziehen“, wie Lachenmann dies tut? (Anders gesagt: Ist die „himmelfahrt“ eine Himmelfahrt oder nur eine illusion?)


[SKG] Das „Handwerk“ der „Komposition“ scheint sich nach dem Ereignis John Cage (um der Sache einen Eigennamen zu geben - es ist natürlich alles viel komplizierter), im Spannungsverhältnis von rein klangdeskriptiver-werkidentitätsschaffender und spiel-anweisend-improvisatorisch-werkidentitäts-negierender-oder-variierender Umschrift zu bewegen. Also im Grunde im Verhältnis von absoluter Planbarkeit, Wiederholbarkeit und Systematisierbarkeit musikalischer Ereignisse abgestützt in syntaktisch-grammatikalischen Systemen der Vergangenheit, die eine saubere Abfolge von Tönen garantieren sollen und dem Einbruch nicht mehr systematisierbarer Klangereignisse, die entweder jederzeit von Aussen ins Werk einbrechen können oder die durch Spiel- und/oder Handlungsanweisungen unvorhersehbar gemacht werden sollen. Wie sehen Sie (vereinfacht gesagt) das Problem von Konstruktivismus und Anti-Konstruktivismus, Form- und Formlosigkeit, Intention und Intentions-losigkeit, Intelligibilität und Nicht-Intelligibilität beim Schreiben von Musik heute ? Oder ist die Problemlage an der sich „die Musik“ heute abarbeiten müsste, für Sie eine grundsätzlich andere ? Gibt es für Sie neben der vorauswirkenden Kraft auch eine rückwärts wirkende Kraft des Ereignisses John Cage, das die Musik der Vergangenheit anders oder überhaupt erst lesbar macht, weil Cage z.B. mit 4’33‘‘, die grundsätzliche Leerstelle benennen konnte auf der jeder Klang aufruht ?

[Jakob Ullmann] Um mit dem ende zu beginnen: Ich bin alles andere als sicher, dass Cage mit „4’33““ tatsächlich eine „leerstelle“ artikuliert hat (ich vermeide bewusst das wort „benennen“). Mit scheint, dass wir alles in allem im diskurs über „musik“ oder angesichts musikalischer strukturen immer noch an einer übermacht der syntax hängen, die als erbe der abendländischen tradition mit dem sog. serialismus ihren höhepunkt (vielleicht ihren abschluss) gefunden hat. Gerade anhand von „4’33““ kann man sich aber leicht vergegenwärtigen, dass man zu korrekturbedürftigen ergebnissen kommt, wenn man die pragmatische(n) dimension(en) musikalischer zusammenhänge, die eben auch musikalische praxis und ihre soziologischen dispositive einschliessen, vernachlässigt. Das bedenklich stimmende missverhältnis zwischen aufwand und nutzen semiotischer forschung hinsichtlich der musik und die nicht selten in die bereiche der banalität oder unbeherrschter metaphorik abgleitenden „inhaltsbestimmungen“ musikalischer äusserungen (und zwar nicht nur im 19. jahrhundert) haben die frage nach der semantischen dimension musikalischer gestalten weitgehend diskreditiert. Nichtsdestotrotz wird man eine frage wie die oben formulierte ohne die inklusion dieser dimensionen von „musik“ nicht bearbeiten (ob auch beantworten, das bleibt dahin gestellt) können. Man muss sich z.b. vergegenwärtigen, wie prekär die verwendung des wortes „ereignis“ wird, wenn man es einerseits ganz selbstverständlich meint auf das (physikalisch beobachtbare) eintreten von klängen beziehen zu können andererseits aber ebenso auf etwas, das schon schwierigkeiten hat, als phänomen zu gelten (ein „werk“ z.b.). Was ist das „ereignis“ von „4’33““ (oder auch der „Variations“) für uns, d.h. (auch) für heute?

Als historische auseinandersetzung zwischen Cage und Boulez (auch das natürlich unzulässig vereinfacht ausgedrückt) ist der in der frage formulierte gegensatz verständlich, sogar nachvollziehbar. Heute scheint er mir auch in dem sinne historisch geworden zu sein, dass er seine orientierende kraft verloren hat. Cage ist vermutlich der „bessere“ schüler Arnold Schoenbergs als Boulez oder gar Stockhausen. Insofern lassen Cages werke Schoenberg anders hören (stärker im sinne einer wirklichen gleichberechtigung der töne, was den „gegensatz“ zwischen den dodekaphonischen und den sog. re-tonalen werken Schoenbergs sehr gering werden lässt).

Schliesslich scheint mir, dass der oben aufgestellte gegensatz die – heute vielleicht entscheidende – frage verdeckt, ob musik überhaupt aus „tönen“ besteht, bestehen sollte oder (noch) kann.


[SKG] Wie verhält sich die Notenschrift zum gewöhnlichen Alphabet ? Oder anders gesagt, verhält sich das Notenbild zum Klang wie die Buchstabenkombination zur Welt ? Wie würden Sie die Umschrift von Klang in Schrift oder Diagramm verstehen ? Ist die Schrift mehr als eine blosse Spielanweisung ? Oder etwas ketzerischer gefragt, ist die Notation wirklich mit dem Werk identisch ? Wäre es aber wirklich hilfreich von der Verschriftlichungsseite (= analytisches Formen-Hören mit Partitur) komplett auf die Rezeptionsseite des einfachen Hörens von Sounds zu wechseln ?

[Jakob Ullmann] Es ist unbedingt daran zu erinnern, dass sprache (umgangssprache!) und musik gemeinsam mit der mathematik an einem der wichtigsten ereignisse der menschheitsgeschichte partizipieren: der entdeckung oder entwicklung des griechischen vokalalphabets vor ca. 2700 jahren in der heutigen türkei (vielleicht in zusammenhang mit der traditionsbildung um Homers „Ilias“). Die erstaunlich kleine zahl an zeichen, die sich als ausreichend erwies, alle gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen sprachlichen äusserungen zu codifizieren, wurde ja auch für zahlen und in musikalischen zusammenhängen benutzt. So erstaunlich (und ernüchternd für den kreativen menschlichen geist) die folgen dieser entdeckung für die sprache waren, hinsichtlich der sprache erwiesen sich diese zeichen als dicht und markieren damit schon den unterschied zum gebrauch in mathematik und musik. 


In beiden feldern menschlicher tätigkeit sind diese zeichen nämlich alles andere als dicht, hinsichtlich der musik sogar versehen mit einem weiteren manko: zwischen „A(lpha)“ und „B(eta)“ befindet sich kein weiteres zeichen. Für phoneme, die mit den griechischen oder lateinischen buchstaben nicht wiedergegeben werden können, wurden einfach (wenige) weitere zeichen an das „alphabet“(!) angehängt. Zwischen „1“ und „2“ befinden sich aber durchaus weitere zahlen und zwar so viele und so unterschiedliche, dass der griechische trick, diese zahlen zu eliminieren (man fasst sie als verhältnisse auf) schon in der schule des Pythagoras nicht mehr funkionierte. Die mathematik erwies dinge als existent, die unmöglich sind. Dennoch ist es „kein problem“ zwischen „1“ und „2“ zu unterscheiden. In der musik ist trotz der entdeckung der „töne“ im frühen mittelalter genau dies aber nicht wirklich der fall. „Töne“ sind nicht „dicht“ (man kann weitere töne zwischen ihnen konstruieren, auch auf irrationalen zahlen basierende!) aber sind erweisen sich auch als „wenig“ individuell, d.h. es ist schwierig ihre grenzen zu bestimmen.

Schon diese wenigen vorüberlegungen zeigen, dass „notation“ (wie immer sie gestaltet ist) und „werk“ (was immer das ist) keineswegs identisch sein können. Es ist nicht einmal klar, ob formen der aufzeichnung, der notation eine hinreichende bedingung zur realisierung musikalischer gestalten ist. So sehr die prägende kraft verschriftlichter musikalischer imagination geschätzt (vielleicht nicht selten überschätzt) worden ist in unserer tradition, das nachdenken über musik und sein sprachlich gefasster diskurs muss die begrenztheit des notierten „im auge behalten“, wenn es nicht in die plattheiten eines schriftpositivismus abgleiten oder in die abgründe der spekulation über ein „werk“, dessen da- sein sich immer dem gedanklichen und sprachlichen zugriff entzieht, stürzen will. Dies gilt – wen kann das wundern – auch für den „klang“. Alle versuche, im „klang“ das identifizierbar eigene, das „wahre werk“ finden zu wollen, führen ebenso wenig zur „sache selbst“. Es gehört ja zum wesen der musik, ein sprachliches gewissen ebenso zu brauchen, wie sich dem sprachlichen zugriff zu entziehen. 


[SKG] Jede produktiv-künstlerische Arbeit (wenn ich einmal die Theoreme dekonstruktiven Denkens zugrunde lege) basiert wohl auf einer ihr zugrundliegenden Aporetik/Problematik (etwa in der „Literatur“, die von Paul de Man formalisierte Spannung von „Grammar and Rhetoric“ (Allegories of Reading, p. 9), die die Arbeit (hier Lesen/Schreiben) vorantreibt, aber sie zugleich an keine Ende mehr gelangen lässt. Wie würden Sie, Herr Ullmann, die Grundproblematik oder die Grundspannung Ihrer künstlerischen Arbeit beschreiben ? Gibt es für Sie eine Grundproblematik „Ihrer“ Musik, die sich re-artikuliert bzw. re-aktualisiert und damit notwendigerweise unterschiedliche Werke produzieren muss ?

[Jakob Ullmann] Es gibt tatsächlich eine solche grundspannung in meiner arbeit, die eine – für mich – grundsätzliche aporie der existenz als autor beschreibt. Diese aporie besteht darin, dass das ziel meiner arbeit auf das verschwinden des autors gerichtet ist. Es gibt legenden von chinesischen malern, die nach fertigstellung ihres bildes darin verschwunden sein sollen, es gibt künstlerische strategien, die das kunstwerk (bei Cage eigentlich seinen „klanglichen inhalt“) möglichst streng von intentionen und ideen des autors und der interpreten abschneiden wollen. Beides trifft die aporie meiner arbeit als autor wenig oder gar nicht. Ich will nicht „im werk verschwinden“ oder es von meinen intentionen abtrennen. Meine arbeit als autor besteht darin, das werk, die musikalische gestalt fremd werden zu lassen. Wenn musik (und mit ihr komposition) ein spiel ist, so möchte ich nicht „mit aufgedeckten karten spielen“. Eine „schöne stelle“, ein „ergreifender moment“, die ich durchaus sogar in eigenen werken schätze, sind für mich degoutant, wenn ich sie zuvor inszeniert habe. Es ist dann nicht mehr „ehrlich“. Wie „es“ fremd wird und fremd bleibt, obwohl man sich als autor der arbeit des „verfassens“ nicht entziehen kann, das ist die frage. Sie lässt sich übrigens keineswegs leichter beantworten, wenn man formen der aufzeichnung wählt, die den interpreten (scheinbar) mehr bewegungs- und interpretationsspielraum lassen.


[SKG] Zeit und Raum (als „Einheit“ für die mögliche Verteilbarkeit des Schalls) und Lautstärke (als Einheit für das, was der jeweilige Raum an Volume also Volumen „schlucken“ kann) könnte man als konkrete und unwiederholbare Eigenschaften eines Aufführungsortes beschreiben. Spielen diese Parameter in ihrer kompositorischen Arbeiten eine Rolle ? Oder anders gefragt, haben Sie schon einmal ein Werk konkret für einen „Zeit-Raum“ oder für ein Instrument geschrieben, dessen Erscheinungsform Sie wie eine Architektur betrachtet haben und nicht „nur“ für ein Ensemble oder einen Solisten ?

[Jakob Ullmann] Die antwort könnte mit „nein“ kurz und bündig ausfallen. Sie wäre nicht einmal falsch. Dennoch scheint für meine arbeit „irgendetwas“ von dem, was die frage anklingen lässt, virulent zu sein. Bei der aufnahme meines stücke „solo III“ in der abteikirche neresheim war der organist (dem 4 assistenten zur seite standen) mit dem durchlauf, der mir gut gefallen hatte, nicht ganz zufrieden, weil an einer stelle sich ein ventil unter den pfeifen zu stark geöffnet hatte und dadurch ein „fast“ normaler orgelton zu hören war. Tatsächlich ist das stück so konzipiert, dass solche klänge vermieden werden sollen. Andererseits ist die herstellung dieser klänge ein solcher „spaziergang auf einer rasierklinge“, dass – realistisch betrachtet – tatsächlich ein derartiges ereignis nicht vermieden werden kann. Ich habe in dieser situation auf den titel des stückes hingewiesen: es heisst „solo III für orgel“ nicht „solo III für einen organisten“. Die orgel (in diesem fall das grossartige instrument in der abteikirche neresheim) hat entschieden, dass dieser ton in der aufnahme enthalten sein soll, autor und interpret haben sich der entscheidung des instruments gebeugt.
 

[SKG] Würden Sie sagen, dass ein Instrument oder eine Besetzung musikalische Denkweisen konserviert oder lassen sich diese Denkweisen durch die Erfindung neuer Spieltechniken oder Besetzungen wirklich überwinden oder transformieren (etwa die Reformulierung des Streichquartetts, oder Feldmans ungeheure Besetzungs-Neuerfindungen ab den achtziger Jahren, cf. „For Philip Guston“ etc.) ? Sehen Sie eine Begrenzung der kompositorischen Ausdrucksmöglichkeiten durch das klassischen Orchester-Instrumentariums - oder nicht ? Könnte man nicht beginnen den Klang (von einem sehr abstrakten Standpunkt aus gesehen) eines Instruments nicht mehr als Ausdruck menschlicher Innerlichkeit zu betrachten, weil ja eigentlich nur das Instrument spielt nicht aber der Mensch ? (Als Hintergrund vor allem die giftige Diskussion um Nonos Spätwerk und angebliche Regression in die Innerlichkeit in den achtziger Jahren - ab ca. Fragmente, Stille . An Diotima)


[Jakob Ullmann]
s.o. und weiter: Als ich vor ca. 40 jahren mit dem komponieren begann und mich mit werken von zeitgenossen, die ich im radio hören oder deren partitur ich in der sächsischen landesbibliothek in dresden anschauen und abschreiben konnte, befasste, habe ich mich stark für bisher eher ungewöhnliche spieltechniken interessiert und auch versucht, sie in meine kompositionen zu integrieren. Bis heute, d.h. bis in meine letzten werke hinein, kommen solche spieltechniken vor. Ich erwarte mir heute aber weit weniger von ihnen als früher. Ich sehe sogar eher die gefahr, dass mangelnde kompositorische vorstellungskraft versucht wird durch möglichst abseitige formen des instrumentalgebrauchs (bis zur zerstörung des instruments) zu kompensieren. Früher erfand man für klänge, die man mit den zur verfügung stehenden instrumenten nicht erzeugen konnte, neue instrumente. Dies (allein) durch elektronisches equiment zu tun heute, ist sicherlich (auch) eine sackgasse. Ich staune immer wieder, wie wenig der kosmos möglicher klänge (wie auch immer erzeugt) auf „klassischen instrumenten“ bisher erforscht ist. Im übrigen steht in jeder meiner partituren „JEDER AUSDRUCK ODER (INNERE) BEWEGUNG SIND STRIKT ZU VERMEIDEN“. 


[SKG] Gibt es für Sie einen absoluten Nullpunkt aus dem heraus „Musik“ ertönt und in den sie wieder zurückverstummt ? Was ist für Sie die Materialität eines Klangs oder einer Klangwelt? Würden Sie es sinnvoll finden, den Klang als unsichtbare Skulptur zu betrachten ? Oder anders gefragt wie bestimmt Ihre Vorstellung des „Ursprungs“ und der „Materialität“ des „Klangs“ das „Formgesetz“ oder die „Gestalt“ Ihrer Kompositionen … ihren Anfang und ihr Ende ? Wie würden Sie in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Werktitel und Werk sehen, wenn ich es als rezeptives Nacheinander von einem vor der Aufführung lesbaren Titel und einem danach hörbaren Werk beschreibe, spiegelt sich hier etwas von dem Konflikt von Sichtbarkeit und Hörbarkeit ?

[Jakob Ullmann] Ich beginne am ende: bei einem meiner privaten treffen, die der tatsache geschuldet waren, dass mein „lehrer“ eben nicht offiziell mein lehrer war, hat er mir hinsichtlich der titelfrage folgenden rat gegeben: „Der titel ist das allerwichtigste. Ein guter titel sind 60% der miete.“ Ich war darüber so erbost, dass ich meine stücke alle „komposition für ...“ genannt habe. Schliesslich bin ich aber mit den zahlen durcheinandergekommen. Seitdem habe ich versucht, titel zu finden (stets erst am ende der arbeit eines stückes), die das stück „irgendwie“ treffend beschreiben. Das kommt dann manchmal doch etwas „poetischer“ heraus als eigentlich geplant, aber das nehme ich in kauf.

Was das stück und seine entstehung angeht, so kann ich das schlecht beantworten. Ich kann erst anfangen, an einem stück zu arbeiten (d.h. mit papier und bleistift), wenn ich genau weiss, wie das stück klingen wird. Ich muss es zunächst, sozusagen wie ein gebirgspanorama insgesamt vor mir „hören“ (wenn man diese sprachliche entgleisung durchgehen lässt). Wenn ich dieses panorama kenne (d.h. eben auch: dauer des stückes, besetzung...), dann kann ich beginnen, eine struktur zu entwickeln, die diese klangvorstellung in ein notiertes stück verwandelt. Aber wo der „anfang“, der „ursprung“ liegt, weiss ich nicht. Woher kommt eine idee? (Von Bruckner gibt es dazu sehr aufschlussreiche anekdoten...). 


[SKG] Durch die Übersättigung mit den Anthropomorphismen der Unterhaltungsmusik (auch hier massiv ein Ocularzentrismus, der im Grunde die Abkopplung des Auges beim Hören nicht erträgt und deshalb permanent Musik mit Bildern und Musiker-Images (also je nach Genre anders verkleideten Musikern) verbinden muss) sehe ich mich vor die Frage gestellt, ob die zeitgenössische Musik nicht an der Auslöschung der menschlichen Stimme und in Analogie zu Wagners „unsichtbarem Orchester“ nicht auch das Woher der Musik erkennbar komplizierter gestalten sollte - als nur durch „totes Virtuosentum“ ? Ist nicht das Verschwinden der Produktionsseite von Klängen in den „black boxes“ der „elektronischen“ Musik (vom Sampler und Syntheziser bis zu Effektgeräten und Selfmade Instruments) auch eine Chance ?

[Jakob Ullmann] Ich (für meinen teil) kann (für meine arbeit) eine solche chance nicht erkennen. Ich arbeite lieber mit menschen. Mit denen kann man sprechen, mit maschinen nicht. Die tun ihren dienst oder auch nicht. Es hat keinen zweck auf sie zu schimpfen, wenn es nicht funktioniert, zumal man selbst ja dadurch sich als derjenige entlarvt, der „keine ahnung“ hat.

Was das verschwinden angeht, habe ich vor einigen jahren in basel eine probe aufs exempel versucht: eine oper, wo das publikum das ganze stück hindurch eine leere bühne anschaut (das wurde dann leider so nicht realisiert, der abend war zweiteilig und man hat die „leere bühne“ des ersten teils genutzt, schon den aufbau für den zweiten teil zu machen. Damit wurden natürlich falsche erwartungen geweckt und assoziationen verursacht...). Kein musiker befand sich im raum des publikums: der schlagzeuger im keller, die chorgruppen hinter türen und einem paravent, das streichtrio in einem nebenraum, eine sängerin lief in verschiedenen büroräumen in der nähe des aufführungsortes umher, der aulos-spieler und die oboistin wanderten hinter der rückwand des saales, in dem sich das publikum befand von rechts nach links und von links nach rechts (ein wenig auch nach oben und unten). Die erstaunlichste erfahrung dieses (teilweise gescheiterten) experiments für mich war, dass die musiker genau „gespürt“ haben, wie die „stimmung“ im saal war; ob die anwesenden wirklich zuhörten oder nur die zeit absassen (oder gar gingen). Wie gesagt: die musiker hatten keine chance, irgendwie in den aufführungssaal zu sehen oder mit ihm in direkten kontakt zu treten. Trotzdem gab es eine art von „interaktion“. Ich finde das höchst seltsam (das umgekehrte erlebt man ja oft). Ansonsten: meine stücke sind (das hat mir neulich gerade wieder jemand gesagt) ohnehin eigentlich alle „disappearing musics“...


[SKG] In seinem Buch „Spectres de Marx“ (1993) schreibt Jacques Derrida über den Warencharakter von Kunst, Religion und Philosophie: „il faut dire que si la marchande corrompt (l’art, la philosophie, la religion (…) quand leurs oeuvres deviennent des valeurs marchandes), c’est que le devenir-marchande attestait déjà la valeur qu’il met en peril. Par exemple: si une oeuvre d’art peut devenir marchandise, et si ce processus paraît fatal, c’est aussi que la marchandise a commencé par mettre en oeuvre, d’une facon ou d’une autre, le principe d’un art” (SPM, 258). In Anschluss daran würde ich Sie gerne fragen, ob Sie in der Musik als Unendlichkeitsprodukt eine markttranszendierende Kraft sehen oder ob Sie in der von Derrida beschriebenen Aporetik befangen bleibt ? Oder wie sehen Sie den Warencharakter der Musik, der ja heutzutage überdeutlich ist ?

[Jakob Ullmann] 1991, bei einem symposium über „musik und politik“ in wien zum Mozart-jahr, habe ich öffentlich gefordert, man müsse musik schreiben/machen, die für führerhauptquartiere nicht tauge. Hansjörg Pauli hat mir dezidiert erwidert: „Welch eine naivität und selbsttäuschung. Man kann alles missbrauchen.“ Das mag stimmen, ich mochte aber die in der bemerkung liegende exkulpation der autoren nicht: wenn alles missbraucht werden kann, ist auch keiner mehr verantwortlich... Natürlich ist musik heute eine ware. Zum glück ist musik eine ziemlich uninteressante ware – verglichen mit der bildenden kunst, sind mit musik keine reichtümer zu gewinnen. Das sollte man durchaus als glück betrachten. Ansonsten halte ich die allgegenwärtige ironie für das vielleicht grössere unglück. Mit meiner musik hat das zum glück nicht so viel zu tun. Sie ist sehr aufwendig bei den proben, die vorbereitungszeit dauert lange und sie ist zu den heute normalen vermittlungswegen und -mitteln weithin inkompatibel. Sie nähert sich also dem zustand, der für alle kunst verpflichtend sein sollte: wertlos zu sein (weil unbezahlbar...).



[SKG] Das Wissen über die Geschichte der Musik schwindet und mit ihr zurecht die Idee von Geschichte als einem linear-teleologischen Prozess (etwa Benjamin, Heidegger, Derrida, Deleuze etc.). So könnte man vielleicht sagen, dass die Rezeption und Entwicklung neuester Musik früher von ihrem eigenen ultra-akademischen Drang nach wertender Schulbildung blockiert wurde (Stichwort: E/U, Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen, Darmstadt, Donaueschingen, und z.B. dass Adorno mit Cage und Stockhausen nichts anzufangen wusste und Schönberg gegen Strawinski ausspielen musste (worauf auch Morton Feldman einmal hinweist)), so wird sie heute vielleicht von einer Überschwemmung des Planeten mit uralten Ideen, die in einer Endlosschleife aus Ahnungslosigkeit als Innovationen verkauft werden, bedroht. Kann man das Neue wirklich nur sehen, wenn man das Alte schon kennt - oder sind beide Zugangsweisen: die totale Historisierung des Klangs und die totale Ignoranz nicht gleichermassen hinderlich, weil beide nur nach einem bekannten oder unbekannten Baukastensystem Altes neu zusammenbasteln (postmoderne Bricolagen à la Schnittke etc.) ? Geht es nicht eher um die Schulung des Gehörs (cf. Pauline Oliveros, Deep Listening) ? Aber wie müsste diese heute aussehen ? Wäre vielleicht eine neu implantierter „Analphabetismus“ (Cages „Ein Klang ist ein Klang“) hilfreich im Sinne einer skeptischeren Komplikation der Relation zwischen Klang und Notation (etwa Lachenmanns Klangtypen-Diagramme ?) Oder anders gefragt: Wie könnte man „Qualitäts“-kriterien entwickeln, die den Ereignischarakter (also die Unvorhersehbarkeit) „unerhörter“ (in Doppelsinn) „Musik“ bewahren würden - durch eine Minimaldefinition gelungener „Musik“ ?

[Jacob Ullmann] Hier muss ich kapitulieren. Vielleicht bin ich selbst zu akademisch, um antworten zu können. Ich kann weder ahnungslosigkeit vortäuschen noch wirkliche kenntnis (ich bin sicher, dass ich mindestens 90% der heute „verfügbaren“ musik gar nicht kenne). Ich weiss es nicht.

Oder vielleicht so: Albert Vigoleis Thelen hat seinem nahezu unbekannten roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ als motto vorangestellt: „Im zweifelsfall entscheidet die wahrheit“ hier also: die wahrheit des ohrs.


[SKG] Eine Frage, die mich seit längerem beschäftigt ist, wie man sich von der okularzentristischen Beschreibung der Musik in den klassischen Ästhetiken befreien kann. Wie kann es so etwas wie musikalische Imagination geben, wenn Klänge keine Bilder und möglicherweise nicht mit Hilfe der Schemata der Einbildungskraft zu verstehen sind ? Welche Form von Unsichtbarkeit hat Musik, wenn sie keine einfache Negation optischer Sichtbarkeit ist, weil sie gar nicht auf Sichtbarkeit bezogen ist ? Oder liesse sich für Sie der Bildbegriff anders wenden ? Für mich wären Jean-Luc Marions Einführung des „phénomène saturé“ und der „certitudes négatives“, Deleuze/Guattaris Idee der „Musik“ als „machine de guerre“, Martin Heideggers Denken der Stimmungen, des Ereignisses und des Gehör(en)s, sowie Paul de Mans Spätwerk tragfähig, um anders über Musik nachzudenken. Jacques Derrida spricht einmal von der "activité stéréographique d'une tout autre oreille" (Marges de la philosophie). Sehen Sie für sich einen Weg aus der auf Auge/Theoria bzw. Hand/Begriff/Denken fixierten Philosophie hin zu einem Denken der Musik, das das Ohr (als erstes und letztes Sinnesorgan in einem Leben) und seine ungeschütze Offenheit ernst nimmt ? 

[Jakob Ullmann] Die musik stammt in höherem masse aus dem sehen, als man vielleicht denken sollte. Das „com-ponere“ beschreibt zuerst (und mehr) eine optisch kontrollierte tätigkeit des schreibens als eine nachzeichnung von (z.b. improvisatorischer) klangpraxis. Vielleicht gilt dieser zusammenhang sogar jenseits der westeuropäisch-abendländischen tradition: ein guter freund, der sich mit indischer musik gut auskennt erzählte mir vor einigen jahren folgende geschichte: Ein sithar (?, vielleicht war es ein anderes instrument)-spieler wurde eines tages von seinem musikmeister, der auch sein spiritueller lehrer war, auf eine art himmelsreise mitgenommen. Sie durchschritten die verschiedensten welten und sahen seltsame und beeindruckende „dinge“. Schliesslich kamen sie in eine landschaft, die merkwürdig „verrückt“ schien: die häuser standen mit dem dach zuunterst auf dem boden, die säulen waren krumm und schief, tiere und menschen hatten zu viele oder zu wenige gliedmassen, zudem an stellen, an die sie gar nicht gehörten. Die sprache schien ein sinnloses gemurmel zu sein, denn die menschen „sprachen“ allenfalls aneinander vorbei. Der schüler fragte den lehrer, ob diese welt eine art hölle sei oder was es mit ihr auf sich habe. Die antwort des lehrers war: das ist deine musik. Auch sie ändert die welt, aber dies ist das ergebnis. Dem schüler, der sich bis dahin schon fast am ziel des lernens gewähnt hatte, war klar, dass er noch nicht einmal den anfang erreicht hatte.

Das ohr zahlt für seine fähigkeit, 360° der umgebung zu erfassen mit der fesselung an die zeitlichkeit seiner eindrücke. Nichts und niemand kann das ohr veranlassen, rückwärts zu hören. Im gehirn kann das arrangiert werden, aber das gehirn scheint sich dafür visueller strukturen zu bedienen (ich bin nur sehr unzureichend gebildet, was neurophysiologie angeht; insofern ist weniger eine „naturwissenschaftliche“ als eine philosophierende aussage). Analyse erfordert die wahrnehmung einer ganzheit. Ohren können ganzheiten nicht hören – das wussten schon die alten, die deshalb ein ertauben der menschen für die sphärenharmonie konstatieren mussten...


[SKG] Abschliessend, möchte ich Sie gerne fragen, Herr Prof. Ullmann, ob es für Sie einen eigenen Satz, einen bestimmten Aphorismus oder auch ein längeres Zitat von einem Lieblingsautor gibt, das die Gangart Ihres (musikalischen) Denkens sehr gut beschreibt ? Vielen Dank.

[Jakob Ullmann] Es ist tatsächlich ein etwas längeres zitat von Jean Paul:  

„Dieses Innere der menschlichen Natur fängt besonders vor einer Kunst wach und laut zu werden an, deren Eigenthümlichkeit und Auszeichnung vor jeder anderen Kunst noch nicht recht erkannt wird; ich spreche eben nicht von Dichtkunst und Malerei, sondern von der Tonkunst. Warum vergisst man darüber, dass die Musik freudige und traurige Empfindungen verdoppelt ja sogar selber erzeugt - dass die Seele sich in die Reize ihrer Tongebäude wie in Tempel verliert - dass sie allmächtiger und gewaltsamer als jede Kunst uns zwischen Freude und Schmerz ohne Übergänge in Augenblicken hin- und her stürzt - ich sage, warum vergisst man eine höhere Eigenthümlichkeit von ihr ? Ihre Kraft des Heimwehs, nicht ein Heimweh nach einem alten verlassenen Lande, sondern nach einem unbetretenen, nicht nach einer Vergangenheit, sondern nach einer Zukunft.

Dieses Heimweh, das sie für zärtere Seelen in alle ihre andern Wirkungen der Entzückung wie der Trauer mischt und das eben aus ihr alle unmoralischen als Mißtöne und alles Unreine ausschließt, drückt sich aus durch den Seufzer, den sowohl der Glückliche als der Traurige ohne Rücksicht auf eine Vergangenheit, aber voll einer unausprechlichen Zukunft bei den Tönen holt. Nicht erst die Aufeinanderfolge oder Melodie, sondern sogar der einzelne Ton - lange fortgezogen besonders als Dreiklang gehoben - fährt tief in die Nacht unserer Inwelt ein, und weckt darin ein Klagen. Daher kommt die Tränengewalt des langsam einsickernden Adagio statt des überrauschenden Platzregens des Allegro, wiewohl sogar das luftige Presto einen Schmerz im Hinterhalte hegt. Daher bei den meisten Völkern (z.B. Griechen, Neaplern, Russen) die Volkslieder in Molltönen sowohl jauchzen als auch jammern. -

Warum aber gerade die Musik unter allen Künsten unserm Jammern so vor- oder vielmehr nachtöne, ist aus den Zahlen ihrer Bewegungen nicht ganz erklärlich. Sonderbar genug bauen ihre körperlichen Bewegungen bestimmte geregelte Klangfiguren; und dieses Bauen muss sie gar auf irgendeine Weise in den zärtern Nerven fortsetzen, aber von hier haben wir noch weit in die Tiefe des Geistes.“ (Jean Paul, Selina oder über die Unsterblichkeit, Zweiter Theil, Kapitel VII: Cerus, p. 34-35. Stuttgart/Tübingen in der J.G. Cottaschen Buchhandlung 1827)


[SKG] Herr Ullmann, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.


This interview was realized in german via e-mail in September 2014. I want to thank Prof. Jakob Ullmann for his kindness and his generosity to share his thoughts with this blog. Cordial thanks for everything, Prof. Ullmann ! The answers [green] are all copyright Jakob Ullmann, the questions [red] are all mine.


 (photo by SKG)